Kritik: Tschick und das Lebensgefühl kleiner Jungs

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(c) Studiocanal

Der Hype um das Buch von Wolfgang Herrndorf hält schon lange an. Tschick ist so ziemlich das Konsensbuch der gegenwärtigen Literaturkritik, wird also generell von Jedermann gefeiert und empfohlen. Ich selbst hab es leider noch nicht gelesen, will Euch also aus der unvoreingenommenen Filmperspektive erzählen, wie der neue Streifen von Fatih Akin so geworden ist. 

Die Stimmung, die der Film wirklich gut, ist das Lebensgefühl zweier Jungs zu vermitteln, die aus ihren problematischen Familien ausbrechen und sich vom einen Moment auf den anderen in einem gestohlenen Lada wiederfinden, ihre ersten Fahrversuche ziemlich souverän bestreiten und irgendeinen Ort anpeilen, den sie Walachei nennen. Was das genau ist, weiß keiner von den beiden so genau. Wieso sie das alles tun, kann auch nur unzulänglich mit Tschicks Opa oder ihrer Langeweile in den Sommerferien beantwortet werden. Aber das ist das Schöne an dem Film und der Art wie die beiden ihre Herausforderungen bestreiten. Vom Steppenwolf zu denken es gehe da nur um Drogen oder, dass es gar kein Roman, sondern eine Band ist, ist nicht schlimm, keinen Führerschein zu besitzen und keine Aussicht auf Essen, Duschen oder Benzin auch überhaupt nicht. Hauptsache man kommt irgendwie einfach weiter.

Ein richtiger Roadmovie ist Tschick dabei aber nicht. Sie fahren letztendlich nur durch Deutschland und hinterlassen ihre Spuren zwar in Dörfern, Maisfeldern, Gebirgen, Ödnissen und natürlich Autobahnen aber wirklich weg kommen sie nicht. Es werden keine großen Fragen des Lebens gestellt, doch trotzdem hat die Reise durch die provinziellen Seiten Deutschlands den zwei Jungen viel zu bieten.

Während die schlechten Familienverhältnisse Tschicks nur angedeutet bleiben, ist Maik der Junge, dessen Familie einen Zusammenbruch erlebt, weil seine Mutter unter Alkoholsucht leidet und sein egozentrischer Vater bereits zur Affäre greift. Dass aber nicht jedes Leben so ist wie ihres, auf irgendeiner Weise dann irgendwie doch, müssen sie erst noch herausfinden. Auf der Suche nach einem Supermarkt kommen die beiden Problemkinder beispielsweise zum Mittagessen bei einer vielköpfigen Dorfsfamilie vorbei. Das Mittagessen wird im Vorhof serviert, als Ritual davor gibt es ein Tischgebet, das Ritual danach bildet hingegen ein Quiz, um das größte Dessert, in dem die jungen Kinder ihr früh angelegtes Bildungsbürgertum zur Schau stellen können. Die beiden Ausreißer sind nicht nur ein bisschen überfordert mit der Situation. Nicht nur, dass sie keine der Fragen beantworten können und deswegen den Joghurt aus dem kleinsten Glas bekommen, sondern weil sie einer lebendigen, scheinbar funktionierenden Familie begegnen, die sich in ihrem zu Hause wohl zu fühlen scheint. Nur der Vater fehlt.

Die Reise geht weiter und das Duo wird zur Bande, indem sie Isa aufnehmen – ein Mädchen was wohl vom selben Schlag wie sie, eigentlich aber noch eine Nummer härter ist. Sie ist auf der Reise nach Prag bei einer Müllhalde stecken geblieben. Unter den zerzausten, stinkenden Haaren verbergen sich zwei strahlende blaue Augen, in die sich Maik ganz schnell verguckt. Zwar scheint in ihrem Leben alles noch viel chaotischer gelaufen zu sein als bei ihm, und eigentlich ist da in seiner Klasse dieses eine Mädchen, in das er schon verliebt ist, aber selbst Tschick sagt ihm, dass im Vergleich zu Isa, trotz unfrisierter Haare und stinkender Klamotten, alle anderen Mädchen einfach nur eisblass aussehen.

Fatih Akin ist mit seiner Verfilmung des Buches ein wirklich erheiternder Jugendfilm gelungen, der wohl zum Besten gehört, was in dieser Saison wohl noch über die Leinwände streift. Die Farben des Films sind genau so satt wie auf den Plakaten und das Schauspieler-Ensemble kann auf ganzer Linie überzeugen. Vor allem Tschick, gespielt von Anand Batbileg, verkörpert den selbsternannten Proleten mit außerordentlicher Authentizität. Einfach nur köstlich ist sein Jugendslang, der zu keinem Moment böswillig oder aufdringlich rüber kommt, sondern die witzigsten und coolsten Stellen des ganzen Films produziert.

Bei aller berechtigten Euphorie ist der Film der ganze große Wurf dann aber leider doch nicht gelungen. Die größte Stärke des Streifens, der jugendlichen Eigenlogik und Lebensgefühl ein Medium zu bieten, hätte dazu noch viel filmischer inszeniert werden müssen. Wenn Maik und Tschick beispielsweise unter dem Sternenhimmel über außerirdische Aliens philosophieren, dann mag  das in reiner Textform viel besser funktionieren, als in bildlicher Erzählung, wo neben einem stinknormalen Sternenhimmel und den in Schlafsacken gekrochenen Jungs nicht mehr zu sehen war. Die Ansätze, in der Maiks Vorstellungskraft sich in eskalierenden Szenen auslädt, zu großer Enttäuschung in den denkwürdigsten Szenen nicht weiterentwickelt.

Das heißt aber auch, dass sich die Stärken des Stoffes in der Verfilmung durchaus sichtbar werden. Am Ende tritt alles ein wie man sich das Leben so vorstellt. Das Trio muss sich trennen, zuerst geht Isa Maik verloren und dann auch noch Tschick. Zurück in Marzahn ist er wieder auf sich allein gestellt und es nähert ihm sich ein Leben als Scheidungsskind mit psychisch labiler Mutter, ohne seine besten Freunde und gesetzlicher Vorbestrafung. Die von Maik zuletzt ausgesprochene Botschaft des Films ist schließlich eine, die viel erwachsener ist als alles bisherige und die Botschaften des Mainstreamkinos zur Plattitüde machen: „Man kann zwar nicht ewig die Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange.“

8


Cast

  • Regisseur: Fatih Akin
  • Drehbuch: Lars Hubrich

Hauptdarsteller

Darsteller Rolle
Tristan Göbel Maik Klingenberg
Anand Batbileg Andrej „Tschick“ Tschichatschow
Mercedes Müller Isa Schmidt

Nebendarsteller

  • Anja Schneider
  • Uwe Bohm
  • Udo Samel

Weitere Meinungen

 

  • Schnitt: 7,2/10

7


Die Filme von Fatih Akin

  • Kurz und schmerzlos (1998)
  • Im Juli (2000)
  • Denk ich an Deutschland (2001)
  • Solino (2002)
  • Gegen die Wand (2004)
  • Europäische Visionen (2004)
  • Crossing the Bridge: The Sound of Istanbul (2005)
  • Auf der anderen Seite (2007)
  • New York, I Love You (2008)
  • Deutschland 09 (2009)
  • Soul Kitchen (2009)
  • Müll im Garten Eden (2012)
  • The Cut (2014)
  • Tschick (2016)

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. vanessaaaxx sagt:

    Ich hab schon so viel positives über das Buch gehört, habe es aber noch nicht gelesen. Ich werde den Film aber denke ich mal trotzdem gucken 🙂 Hört sich gut an

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  2. Das Buch ist okay, habe den Hype darum aber nie ganz verstanden. Der Film sieht um einiges amüsanter aus. 🙂

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