Kritik: American Honey

Es herrscht frischer Wind im Herbstkino und der Grund dafür ist das Filmteam um die Regisseurin und Drehbuchautorin Andrea Arnold. Ihre früheren Werke wie Fish Tank oder Wuthering Heights sind zwar nicht allseits bekannt aber mehrfach prämiert, darunter auch doppelt mit dem Preis der Jury in Cannes. Wie jeder weiß sind aber alle guten Dinge drei und so darf sich auch ihr neuster Film American Honey Gewinner des begehrten Jury-Preises aus dem renommierten Festival in Südfrankreich nennen. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass es im Film tatsächlich um eine Bande ziemlicher Proleten geht, die im ständig selben Autobus zu immer anderen Songs sitzen.

American Honey ist dabei alles andere als ein Konsensfilm. Schon in den frühen Szenen zeichnet sich ab, was im gesamten Filmverlauf durchgehalten wird. Die 18-jährige Starr (Was für eine Debüt-Rolle: Sasha Lane) sitzt in ihrem Problemhaushalt fest, muss sich um ihre zwei kleinen Halbgeschwister kümmern und ist völlig perspektiv- und chancenlos. Ganz am Anfang wird gezeigt, wie sich ihr betrunkener Rabenvater vor dem laut aufgedrehten aber eigentlich ziemlich zärtlichen Song Take your Time von Sam Hunt an ihr vergreift. Star muss sich die zu nahen Berührungen ihres Vaters ertragen bis der völlig in Musik aufgelöste Vater „I don’t wanna steal your freedom“ singt, womit er gleichzeitig auf subversive Weise seine Tochter für ihren kommenden Roadtrip segnet.

Sie schließt sich einer Gruppe Jugendlicher an, die durch die gesamten Vereinigten Staaten fahren, um in allen erdenklichen Gegenden Magazinsubskriptionen zu verkaufen. Interessant ist aber nicht unbedingt ihre Art der Geldbeschaffung, sondern das Biotop, in dem sich die Figuren wiederfinden. Die Gang-Leaderin Krystal (etwas zu einseitig tussig: Riley Keough) erfindet nicht nur die businessmäßigen Regeln ihrer Miniaturgesellschaft, sondern lässt sie zu einem eigenen Kult erwachsen, die neben verkiffte Partys im Bus, auf Parkplätzen oder hinter dem Motel vor allem der Zusammenhalt untereinander auszeichnet. Jeder in der Truppe hat gehörige Macken, die Mitglieder sind nicht nur von der Gesellschaft verstoßen, sondern von ihr vernarbt, doch finden sie in ihren absurden Ritualen ihr adäquates Ventil.

Die Meisterschaft des knapp dreistündigen Roadmovies liegt darin, diese wiederkehrenden Szenen immer wieder aufs Neue darzustellen, um die Magie der verschiedenen Einzelmomente einzufangen. Das kann man langweilig, oberflächlich und unoriginell finden, doch steckt in ihnen eine subtile Poetik des Moments, die den Zuschauer mit dem latent-wohligen Gefühl der Truppe belohnt, das in fast jeder Szene von American Honey zu finden ist. Star lässt immer wieder Tiere frei, die Jungs prügeln sich auf Zuruf, Pagan erzählt von ihrem Darth-Vader-Komplex, Krystal stimmt immer wieder ihren Motivationsgesang an und alle machen mit.

Das zentralste und wichtigste für die Gruppe ist jedoch die Musik. Unter den verschiedenen Songs mag man nicht alle mögen, trotzdem schafft es Andrea Arnold aber ihnen eine unglaubliche Authentizität durch den Support der Story zu verleihen. Hier wird American Honey meiner Meinung nach von einem guten zu einem außergewöhnlichen Film. Musik ist für die fahrende Party-Crew das Elixier des Lebens – ohne sie keine gute Laune, noch weniger Aussicht auf Zusammenhalt und schon gar nicht die Möglichkeit dieses autonomen Lebens jenseits alles Gesellschaftlichen. Der Name des Films legt nahe, dass sein Höhepunkt erreicht ist, wenn die ganze Gruppe zum titelgebenden Folk-Song von Lady Antebellum mitsingt, und sich dabei gewahr wird, dass sie alle das gleiche Schicksal der Heimatlosigkeit bindet und sie mit ihrem Nomadendasein mehr als zufrieden sind. Doch einen Höhepunkt hat der Film genauso wenig wie ein gewohntes Erzählschema. So bleibt die Szene zwar denkwürdig, doch führt sie nirgendwo hin, einzig ins Unbestimmte. ‚We found love in a hopeless place‘ – das ist das so programmatisch und wundervoll vermittelte Lebensgefühl Stars, die ihre trübe Vergangenheit hinter sich gelassen hat, um sich auf eine lebendige Gegenwart mit einer nur fragmentarischen Zukunft einzulassen.

Fazit: Mich hat American Honey wirklich nachhaltig so beeindruckt wie lange kein Film mehr. Zu den meisten der Lieder hatte ich vor dem Film einen schlechten Bezug, doch kann American Honey das schöne Gefühl von authentischen Pop-Songs als Lebensbegleiter sogar so gut vermitteln, dass der nervige Rihanna-Ohrwurm im neuen Glanz erstrahlt. ‚We found love in a hopeless place‘ – das ist das so programmatisch und wundervoll vermittelte Lebensgefühl Stars, die ihre trübe Vergangenheit hinter sich gelassen hat, um sich auf eine lebendige Gegenwart mit einer nur fragmentarischen Zukunft einzulassen.

9


Cast

  • Regisseur: Andrea Arnold
  • Drehbuch: Andrea Arnold

Hauptdarsteller:

Darsteller Rolle
 Sasha Lane Star
Shia LaBeouf Jake
Riley Keough Krystal

Nebendarsteller

  • McCaul Lombardi
  • Arielle Holmes
  • Crystal Ice
  • Veronica Ezell

Weitere Meinungen

 

  • Schnitt: 8,7/10

Die Filme von Andrea Arnold

  • Red Road (2006)
  • Fish Tank (2009)
  • Wuthering Heights (2011)
  • American Honey (2016)

3 Kommentare Gib deinen ab

  1. filmlichter sagt:

    Hm, das klingt gut. Ich habe gerade letztens nochmal Fish Tank gesehen. Dieser Film klingt fast wie eine Fortsetzung, endet der Film doch damit, dass Hauptfigur Mia aus ihrer oppressiven Umgebung davonfährt. Interessant, dass Arnold immer noch in 4:3 dreht. Das hat heutzutage ja schon seltenheitswert.

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    1. kuyaa sagt:

      Oh, dann muss ich mir Fish Tank wohl unbedingt anschauen! ich finde das 4:3 geht hier absolut auf, da brauch man den richtigen Film, um es richtig zur Verwendung zu bringen.

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  2. donpozuelo sagt:

    „Fish Tank“ war ein toller Film. Und ja „American Honey“ habe ich auch schon im Visier. Den will ich auch sehr gern noch sehen.

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